Edition Habermann

Im Regen stehen

Judita Habermann

Kündigt sich ein arger Wolkenbruch an, gehe ich gerne ohne Schirm ins Freie. Sobald der Regen einsetzt, den ich mir immer stark wünsche, ziehe ich Schuhe und Strümpfe aus, um durch die Nässe zu waten. Wasser, Erde und Wind – sogar asphaltierte Straßen – werden dann zum sinnlichen, nein, einem echt übersinnlichen Erlebnis. Manchmal kommt es vor, dass ich nach dem Abstreifen der Schuhe irgendwie verschwinde, um eins zu werden mit dem Wetter oder dem Wasser, das sich am Boden sammelt. Irgendwie stehe ich im Regen und gleichzeitig bin ich nicht mehr da.

„Wisdom of Insecurity“

Dies begann so: Als lesehungrige Studentin entdeckte ich an meinem 23. Geburtstag in einem amerikanischen Antiquariat ein Buch aus dem Jahr 1951: The Wisdom of Insecurity von Alan Watts. Weisheit des ungesicherten Lebens lautet der Titel der unbefriedigenden deutschen Übersetzung. Daheim angekommen, konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. An einer eindrucksvollen Stelle erklärt Watts, der ein guter Freund Anagarika Govindas war, dass wir dazu neigen, vor der Gegenwart wegzulaufen. Jeder Augenblick ist nach verschiedenen Richtungen hin offen und birgt darum die Unsicherheit, wie es weitergeht. Das Erlebte könnte sich so oder anders entwickeln. Weil uns das beunruhigt, ordnen wir den Moment lieber in Bekanntes ein, prägen also die Zukunft im Sinn der Vergangenheit. Dabei setzen wir den Alltagstrott fort, der uns in seiner scheinbaren Vorhersehbarkeit Sicherheit vermittelt. Wir fliehen vor der Chance, dass unser Leben sich ändert, in den vertrauten Schoß des bequem Vertrauten.

Alan Watts und Anagarika Govinda

„Things from which you cannot get away…“

Eine dauerhafte Flucht vor der eigenen Realität ist im Hinblick auf unsere Entwicklung nicht sinnvoll. Watts sagt: „It is a useful process for knowing when to come out of the rain. But it does not tell you how to live with things from which you cannot get away, which are already part of yourself.“ Während ich damals über diese Zeilen nachdachte, sah ich aus dem Fenster, wie sich der Himmel verdunkelte. Gleich könnte es in Kübeln schütten. Mich störte plötzlich, dass ich im Trockenen saß, sollte tatsächlich Regen einsetzen. Vielleicht zogen die Wolken auch vorüber. Aber trennten mich Dach und Mauern des Hauses nicht von dem möglichen Unwetter, einem Teil meiner größeren Wirklichkeit? Plötzlich schien mir der trockene Raum als Gefängnis, der mich von einem großen Teil dessen, was „part of myself“ war, abschottete. Ein starker Impuls drängte mich: Hinaus aus der dürren Gewissheit, hinein ins Feuchtbiotop des wahren Lebens!

Von oben durchnässt

Ich sprang auf und schlüpfte in die ersten Schuhe, die ich sah. Es waren Turnschuhe meiner Mitbewohnerin, die neben der Tür standen. Schirm- und mantellos rannte ich ins Freie. Nie zuvor verstand ich so klar, warum das Freie „das Freie“ heißt, – wegen der Freiheit, die man dort erfährt. Ich genoss die Spannung, ob bei der Geschwindigkeit, in der die Wolken über den Himmel rasten, überhaupt Regen einsetzen würde. Dann prasselten heftige Tropfen nieder und ließen meine Kleider schwer werden. Ich schlüpfte aus den Schuhen, stand im Wasser, und plötzlich war da nur noch der Regen, zu dem ich wie seit Ewigkeit gehörte. Seither will ich manchmal vollkommen von oben durchnässt werden. Was dabei geschieht, ist durch Worte schwer vermittelbar. Als ich meiner Mitbewohnerin den Zustand ihrer Schuhe erklären musste, meinte sie: „Im trockenen Haus zu sitzen, ist keine Flucht. Dein Hinauslaufen war eindeutig eine.“ Wer von uns beiden recht hat, mögen andere entscheiden.