Vom Mehrwert der Dinge
Vor zwei Jahren besuchte ich eine Freundin in Villingen, die mich mit ins dortige Franziskanermuseum nahm. Vor einem volkstümlichen Gemälde blieb ich lange stehen. Es zeigt den Ätna in Aktion. Feuer lodert zum Himmel, Lavaströme fließen abwärts und Steinbrocken werden aus dem Berg geschleudert. Mir fiel der Beginn des Gedichts Sizilien von Friederike Migneco ein: „Meine Heimat ist ein schwarzer Vulkan / der Felsen in das Meer erbricht.“ Eindrucksvoll rezitiert es Steve Karier im vierten Teil des Hörbuchs ich bin aus dir gemacht. Auf dem Gemälde in Villingen fliegt ein Engel zum Ätna. Dieser hält eine Tafel, die auf Agatha von Catania als die „Retterin des Vaterlandes“ hinweist. Die sizilianische Heilige soll im 3. Jahrhundert als Märtyrerin gestorben sein.
Mehr sehen als das Äußere
Als nach Agathas Tod bei einem Ausbruch des Ätna das Ende Catanias besiegelt schien, hielt man die sich gefährlich nähernde Lava durch die wundertätige Kraft des Schleiers der Heiligen auf. Dass sich im drohenden Untergang die Befreiung zeigt, scheint an eine Bedingung geknüpft: Man muss in Dingen mehr als das sehen, was sie äußerlich sind. Dann wird Agathas Schleier vom Kleidungsstück einer Toten zur machtvollen Reliquie. So manches Objekt unserer Wahrnehmung kann mehr sein als es ist, auch ein Baum. So lesen wir wieder bei Friederike Migneco in ihrem Buch Im aufsteigenden Zeichen:
„Du bist der Wissende
im tausendjährigen
Kastanienbaum
des Ätnagartens“
Migneco sieht also über den Baum hinaus einen Wissenden darin? Doch wer soll das sein? Wir erfahren im Gedicht, er sei der, der das Wasser blau und die Vegetation grün macht und der im Tanzen Kreise zieht. Ist damit Gott im christlichen oder islamischen Sinn angesprochen? Oder die Buddha-Natur, die in allem schlummern mag? Vielleicht geht es in diese Richtung, vielleicht aber nicht.
Dinge mit Charakter
Man könnte im Kastanienbaum auch den Geliebten sehen, dessen bloße Existenz in einem romantischen Impuls der Welt intensive Farben verleiht. Migneco beherrscht wie Christine Lavant, eine andere meiner bevorzugten Dichterinnen, meisterhaft die hohe Kunst unaufdringlicher Spiritualität. Man kann Texte dieser Autorinnen religiös lesen oder nicht. Weil ich nicht immer fromm unterwegs bin, aber immer Lyrik lesen kann, kommt mir das entgegen.
Wie im Gedicht Sizilien führt uns der Kastanienbaum zum Ätna, einem magischen Ort im Werk Mignecos. Er ziert auch das Cover ihres Buchs Im aufsteigenden Zeichen. „Es gibt Berge, die nur Berge sind, und solche, die eine ausgeprägte Persönlichkeit besitzen,“ schrieb Lama Anagarika Govinda in Der Weg der weißen Wolken. Er hatte den Kailash in Tibet im Sinn, aber es trifft auch auf den Ätna zu. Dinge, in denen man mehr als das Äußere erkennt, müssen eine besondere Individualität besitzen, – Berge, Bäume und Schleier mit Charakter. Agathas Schleier war ganz sicher ein solcher. Vor meinem Schleier würde wohl eher keine Lava erstarren, was zweifellos nicht nur daran liegt, dass ich keinen solchen besitze.
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